
Intuitives Essen – was ist das... der neueste hipster-food-trend oder die Erlösung davon?
Autorin Ulrike Schneider-Schmid, Psychologin und Ernährungsberaterin
30-12-2017
Paleo? Juice cleanse? Intermittierendes Fasten? Oder doch vegan? Was macht mich endlich dünn und schön? Vielleicht doch Weight Watchers beitreten oder einfach alle Kohlehydrate zum Teufel erklären? Für viele von uns ist Essen einfach eine Qual. Denn wir verbringen einen Großteil unserer Zeit damit, es uns einfach zu verbieten. Viele von uns Menschen – und nicht nur Frauen - stellen immens viele Regeln auf, die unsere pure Essenslust zähmen sollen. Und dann kommt sie doch, die Heißhungerattacke. Anstatt ins Bett wird an den Kühlschrank gegangen oder aus dem 1 erlaubten Stück Schokolade werden so viele, dass sich das Mitzählen schon gar nicht mehr lohnt. Daraufhin wird sich selbst die Schuld daran gegeben, man empfindet sich als willensschwach, schlecht, böse....und die Regeln werden noch härter und strenger aufgestellt.
Doch muss das so sein? Darauf gibt es eine klare Antwort: Nein! Qual ist KEIN guter Weg zum Wohlfühlen.
Beginnen wir, absichtlich auf bestimmte Gruppen von Nahrungsmitteln zu verzichten und uns z.B. nur mehr von „leckeren“ Pulverdiätdrinks zu ernähren, nehmen wir von außen Einfluss auf den sensiblen Körperhaushalt. Durch starke Kalorienrestriktion fährt der Stoffwechsel herunter, der Körper bekommt das Signal: „Alarm! Hilfe! Wir sind in einer Mangelsituation!“. Es werden körperliche Prozesse heruntergefahren und der Fokus unbewusst auf Nahrungssuche gelegt, oft folgen Heißhungerattacken, in denen wir das Verbotene maßlos zu uns nehmen. Dies sind ganz archaische Prozesse, ohne die wir die Evolution sicherlich nicht überlebt hätten. Eigentlich könnten wir unserem Körper dafür sogar Danke sagen! Die meisten Menschen suchen jedoch die Schuld in ihrer „mangelnden Willenskraft“, fühlen sich schlecht und legen sich in Folge noch restriktivere Diätkonzepte zurecht.
Dabei weiß unser Körper eigentlich sehr gut, was er braucht. Er ist fähig, seine Nahrungsaufnahme selbst zu regulieren, ohne zu viel kognitive (also gedankliche) Einflussnahme. Genau, wie es z.B. beim Schlafen auch passiert. Auch hier können wir auf unseren Körper hören. Sind wir abends müde, gehen wir schlafen und versuchen nicht, uns dieses Bedürfnis tagelang auszureden. Fakt ist: Die meisten Menschen sind dazu fähig, ihr Gewicht über Jahre konstant zu halten, ohne von außen darauf Einfluss zu nehmen.
Im Tierreich lässt sich dies auch gut beobachten. Instinktiv essen Tiere in der Wildnis das, was ihnen gut tut und was sie brauchen. Ohne dass ein Diätberater oder eine Frauenzeitschrift ihnen sagt, was dies sei.
Auch wir Menschen besitzen diese Fähigkeit - oftmals ist sie uns nur über die Jahre verloren gegangen.
Lasst uns einen Blick in die Kindheit werfen. Forschungen zeigen: Babys, die nach Bedarf gestillt werden, nehmen genau das an Milch zu sich, was sie in ihrer Entwicklung brauchen. Mehr noch, durch spezifische Verhaltensweisen (z.B. längeres Trinken an nur einer Brust) modulieren sie selbst die Zusammensetzung ihrer Nahrung. In einem Experiment (Davis, 1920) wurde einer Gruppe von Kindern bei jeder Mahlzeit eine Auswahl an 10-12 verschiedenen Lebensmitteln angeboten. Sie konnten davon so viel und was sie wollten selbstbestimmt zu sich nehmen. In den folgenden Monaten zeigten diese Kinder ein ganz normales Wachstum und eine über die Zeit hinweg adäquate Zufuhr von Nährstoffen. Aber: sie ernährten sich phasenweise extrem unterschiedlich. Manchmal aßen sie kaum etwas, dann wieder große Portionen; mal wieder tagelang dasselbe Lebensmittel, dann rührten sie dieses wochenlang nicht mehr an. Diese Ergebnisse konnten in modernen Studien wiederholt werden. Wer kleine Kinder zuhause hat, kennt das Phänomen sicher! Wochenlang wollen sie sich ausschließlich von Nudeln und dann auf einmal nur mehr von Erdbeerjoghurt ernähren...
Mittlerweile gibt es immer mehr dieser Studien über intuitives Essen: So konnte gezeigt werden, dass Frauen, die ihren internen Signalen für Hunger und Sättigung folgen, schlanker sind (Gast et al., 2015). Außerdem betreiben sie häufiger Sport - und zwar aus Freude! Auch nach der Schwangerschaft verlieren intuitiv essendende Frauen das zugenommene Gewicht schneller – eben OHNE Diät (Leahy et al., 2017). Sich so ernährende Personen haben im Durchschnitt auch bessere Blutwerte und scheinen gestärkter in Punkto physischer und psychischer Gesundheit (Dyke et al., 2014).
Aus diesen Erkenntnissen wurde der Begriff des intuitiven Essens entwickelt, mit folgenden Prinzipien:
1. Iss nur, wenn du hungrig bist
Lerne die Signale deines Körpers wieder wahrzunehmen und folge ihnen. Iss nur aus Hunger, nicht aus z.B. Langeweile oder dem Bedürfnis nach Liebe.
2. Hör auf zu essen, wenn du satt bist
Iss langsam und ruhig (weder im Stehen noch vor dem Fernseher), nimm wahr was du zu dir nimmst und achte auf Signale von Sättigung. Dann auch aufzuhören, obwohl noch etwas auf dem Teller liegt, das müssen die meisten trainieren.
3. Keine Nahrungsmittelgruppen sind verboten
Die gute Nachricht! Koste alles und spüre nach, was es in dir auslöst. Nicht jedem Menschen tut alles gut. Mit einem großen inneren Erfahrungsschatz, was bestimmte Lebensmittel in dir auslösen, kannst du deinen Appetit später die richtige Wahl treffen lassen.
4. Lass deinen Körper entscheiden, was dir gut tut und höre ihm achtsam zu
Dein Körper sendet dir mittels Appetit Signale darüber, was er gerade braucht. Achte auf sie, überhöre sie nicht! Komme wieder in Kontakt mit deinen wahren Bedürfnissen.
Also: Die Prinzipien des intuitiven Essens wirken so simpel und die Auswirkungen auf die Gesundheit scheinen so toll – warum bitte ernähren wir uns dann nicht alle so? Wenn es so einfach ist? Wo ist der Haken?
Hier spielen viele Faktoren hinein, die uns das Leben schwer machen. Viele Menschen haben es sich angewöhnt, ihre Nahrungsaufnahme nur nach äußeren Faktoren zu terminieren, z.B. nur zu bestimmten Uhrzeiten essen. Oder nur die Produkte, die von der neuesten Fitnesszeitschrift als gesund dargestellt werden. Oder auch aus bestimmten Emotionen heraus. Viele Kinder werden leider mit Essen belohnt oder getröstet. Dies kann Auswirkungen bis ins Erwachsenendasein mit sich ziehen! Andere haben selbst gelernt, dass Zucker bei Traurigkeit „hilft“ oder die Schokolade bei Liebeskummer. Genauso kann es auch mit dem Diät-halten passieren. Bei Gefühlen von beispielsweise Hilflosigkeit, dass einem das Leben außer Kontrolle gerät oder man beruflich nicht vorwärts kommt, versuchen viele Menschen, dann wenigstens durch Diäten ihren Selbstwert zu stabilisieren. Durch die erhöhte Kontrolle über das Essen und den eigenen Körper kompensieren viele Personen andere Emotionen und Defizite.
Dies kann langfristig zu Essstörungen und massiven körperlichen Schäden führen.
Es ist nicht leicht, die eigenen Muster zu durchbrechen! Falls es dir schwer fällt oder du das Gefühl hast, in Richtung einer Essstörung zu driften: Eine psychologische Beratung, Ernährungsberatung oder Psychotherapie kann hierbei hilfreich sein. Das Essen wird geübt, unter der Prämisse von Achtsamkeit und Genuss. Der Gewinn für den Rest ihres Lebens kann ein hohes Maß an Freiheit und Freude sein!
Feel free to eat a burger again – if your body wants to.